Die sogenannte „Frühsexualisierung“

wird in diesem lesenswerten Artikel der ZEIT vom 21.11.2016 auf den wissenschaftlichen Prüfstand von Prof. Dr. Uwe Sielert (Kiel) genommen.
Ein Zitat:

„Das Wort Frühsexualisierung impliziert, dass Kinder keine sexuellen Wesen seien, dass sie keine körperliche Neugierde, Lusterfahrungen, zärtlichen Gefühle oder Bindungs- und Beziehungswünsche hätten. Das widerspricht jedoch jeder wissenschaftlichen Evidenz und persönlichen Alltagserfahrung.“

Sielert kommt u.a. zu dem Ergebnis, dass manche versuchen,

„Sexualität […] für völkische Ideale“

zu instrumentalisieren.

Spannend wird es (und ich persönlich finde es beschämend), wenn man nicht nur bei Populisten, sondern auch bei Parteien, die man bislang dem bürgerlichen Spektrum zuordnen konnte, Aussagen findet, die anscheinend an Slogans von Populisten anbiedern wollen:

>>Genderideologie und Frühsexualisierung“ in den Schulen müssten gestoppt werden, heißt es in dem Familienpapier weiter: „Die Darstellung von Vielfalt und der im Grundsatz richtige Einsatz für Toleranz darf nicht in eine Diskriminierung der heterosexuellen Mehrheitsbevölkerung führen.“<< (Die Welt, 23.11.2016)

Fairerweise sollte man aber den Artikel von queer dazu lesen, in dem auch eine andere Sicht dargestellt wird. Mal sehen, wie sich die Partei dann tatsächlich positioniert.

Dazu fällt mir Franziska Schutzbachs sehr lesenswerter Aufsatz aus dem Jahr 2011 ein.

Nachdenkenswert finde ich auch einen Essay vom 16.1.2016 (leider ist der Link zur Quelle nur noch im Webarchiv verfügbar) von Axel Salheiser in der Huffington-Post:

>Die Begriffe „Gender-Ideologie“ und „Gender Mainstreaming“ werden oftmals synonym gebraucht; hauptsächlich um die staatliche Frauenförderungs- und Gleichstellungspolitik und deren feministische Vordenker*innen zu diffamieren. Das eigentliche Ziel ist jedoch, Menschen in homo- und trans*phoben Vorurteilen zu bestärken und zum „Widerstand“ gegen LGBTIQ*-Interessen aufzuwiegeln.<<

Auch der weitere Artikel ist sehr lesenswert…

Wie der Tagesspiegel berichtete, gibt es anscheinend nicht nur bei diesen Begriffen, sondern auch bei vielen anderen Worten Gruppen, die gezielt durch Begriffsverdrehungen und Neukombinationen Stimmung machen und die Gesellschaft spalten wollen.

Wie wenig sinnvoll für die Bevölkerung moralische statt medizinische Argumente im Blick auf das Gesundheitswesen sind, zeigt ein Artikel der WELT, in dem es heisst:

Als der Republikaner Gouverneur des US-Staates Indiana war, führten die Kürzung von Medizinausgaben und seine (moralisch begründete) Ablehnung einer Verteilung von sterilen Nadeln zu einem HIV-Ausbruch.“

Update: Dr. Gerhard Schreiber brachte es am 9.12.2016 so auf den Punkt:

„mir scheint, wer argumentiert, dass sexuelle und geschlechtliche Identität eine Frage der Erziehung ist, der muss auch annehmen, dass jemand vom bloßen Ansehen schwanger werden kann. Also das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.“

Oberkirchenrätin Dr. Kristin Bergmann schrieb zum Thema ebenfalls einen Artikel mit der Überschrift „typisch männlich, typisch weiblich?„, der bei evangelisch.de veröffentlicht wurde.

Die Leser* des Männer Magazins wählten „Frühsexualisierung“ als Begriff, den man für das Unwort des Jahres vorschlagen soll.

In der ZEIT vom 11.7.2016 findet sich ein weiterer bedenkenswerter Artikel (Titel: „Man wird wohl noch Mohrenkopf sagen dürfen!“) zum Thema „political correctness“ und rassistische Sprache im Blick auf die Geschichte des Kolonialismus, durchbuchstabiert am Begriff „Mohrenkopf“.

Update 2/2017: der Queerspiegel brachte im Februar 2017 ebenfalls einen Artikel von Anja Kühne über die Propagandabegrifflichkeit rechtspopulistischer Gruppen. Warum hier rechte Ideologie verbreitet wird statt empirisch überprüfbare Fakten macht folgendes Zitat deutlich:

>>Plant der Staat tatsächlich, wehrlose Kinder zu „sexualisieren“? Und was soll das überhaupt bedeuten? Dass Lehrkräfte in der Grundschule sexuelle Praktiken erörtern oder Sexspielzeug herumreichen? Das wäre tatsächlich ein Skandal. Indes: Belege dafür blieben die „Demo für alle“ und die AfD bislang schuldig. Kein Bundesland hält seine Lehrkräfte dazu an, Kinder zu „sexualisieren“.<<

update 5/2017: Elisabeth Tuider, die das Buch „Sexualpädagogik der Vielfalt“ geschrieben hat, äußerte sich in einem Interview mit dem Titel „Die Angst vor dem Regenbogen“ ebenfalls deutlich zur „Demo für alle“ und dem ideologischen Schlagwort der „Frühsexualisierung“.

update 2/2018: wie inzwischen auch Medien der Springer-Presse bewusst dazu beitragen, den Mythos der „Frühsexualisierung“ zu verstärken, zeigt ein Beitrag von Stefan Niggemeier in Übermedien hier.

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