Lehnen transsexuelle Menschen ihren Körper ab?

Manche Menschen meinen, transsexuelle Menschen seien „körperfeindlich“ oder würden ihren Körper insgesamt ablehnen. Doch stimmt das?
Stellen sie sich vor, sie kommen in ein gewisses Alter, in dem es auf Grund der Alterung Gelenkschmerzen gibt. Sie haben die Wahl,

  • Muskeltraining zu machen oder
  • Schmerzmittel zu nehmen,
  • eine größere Operation (z.B. künstliches Hüftgelenk einbauen lassen) auf sich zu nehmen,

um den Leidensdruck zu mindern. Wahrscheinlich würde jeder Mensch in Ruhe abwägen, welche Schritte er unternehmen will und wann er/sie ggf. eine Operation durchführen möchte. Dazu wird derjenige sich mit Hilfe von Ärzten und Therapeuten über die Risiken und Nebenwirkungen aber auch Chancen der entsprechenden Verfahren/Medikamente/Trainingsmethoden informieren.
Hat derjenige deshalb eine körperfeindliche Einstellung, weil er/sie sich schließlich doch für eine Operation entscheidet, in der Hoffnung, seinen Leidensdruck deutlich zu vermindern? Haben Menschen, die Phantomschmerzen empfinden, deshalb eine körperfeindliche Einstellung?
Würde man so einem Menschen vorwerfen, die „Schöpfungsordnung“ in Frage zu stellen, weil er sich mit dem Schmerz und Leidensdruck nicht abfinden will? Wer ist eigentlich der Verfasser der sogenannten „Schöpfungsordnung“? Warum kommt dieser Begriff so nicht in der Bibel vor? Sollte er Teil einer Philosophie sein, vor der man sich – laut Aussage der Bibel – hüten soll (vgl. Kolosser 2,8)? Warum kritisierte der berühmte Theologe der bekennenden Kirche – Prof. Dr. Karl Barth – mit deutlichen Worten den Begriff der Schöpfungsordnung?

Karl Barth: „Wer oder was erhebt diese Konstanten [des sozialen Lebens] denn nun eigentlich zum Gebot, zur verpflichtenden und bindenden Forderung […]? Trieb und Vernunft? […] Sitzen wir denn als >Glaubende< im Rate Gottes, um darüber Aufschlüsse zu haben und geben zu können? Kann der Anspruch, mit dem hier Einer und dort Einer auf Grund von Trieb und Vernunft mir nichts dir nichts >Schöpfungsordnungen< proklamiert, wie es ihm nach seiner liberalen oder konservativen oder revolutionären Gemütsverfassung gerade passt – kann diese Anspruch etwas Anderes bedeuten als die tumultuarische Aufrichtung des Papsttums irgend einer höchst privaten Weltanschauung?“ (Quelle: Lienemann W., Mathwig, F.; Schweizer Ethiker im 20. Jahrhundert, Zürich, 2005, S.98)

Vielleicht ist es kein Zufall, dass der Begriff der Schöpfungsordnung in der Zeit der NS-Diktatur Hochkunjunktur bei manchen Theologen hatte, die dem totalitären Regime gegenüber wenig kritisch waren, während Theologen der bekennenden Kirche diesen Begriff ablehnten?
Prof. Dr. Alfred de Quervain (1896 – 1968) war als reformierter Theologe Kritiker der NS-Ideologie zur Zeit der bekennenden Kirche und Mitglied der bekennenden Kirche. De Quervain bezieht den Herrschaftsbereich von Jesus Christus auf das ganze All, in dem Christus die das All dominierenden Mächte und Gewalten besiegt hat (vgl. Kol 1,16; 2,10.15; 1 Petr 3,22 usw..).
Ausgehend von der Herrschaft Jesu formuliert de Quervain eine scharfe Kritik an all den Erscheinungen, die

„Erlösung versprechen, aber nicht der dreieinige Gott sind“ (Lienemann, S. 121)

und nennt u.a.

„für Offenbarung gehaltene Schöpfungsordnungen (Blut, Rasse, Familie, Volk, Menschheit, Staat, Stände, religiöse Gemeinschaft, Individuum usw.)“ (ebd.)

Die Kernfrage ist also: Warum soll man überhaupt von „Schöpfungsordnung“ sprechen, wenn der Begriff in der Regel bislang nur dazu diente, bestimmte Konzepte, Philosophien und Ideen als „göttlich legitimiert“ auszugeben um damit anderen Menschen das Leben schwer zu machen? Der Apostel Paulus warnt im Galaterbrief ausdrücklich vor denen, die die Gemeinden in Galatien verführen wollen – zum Beispiel in Gal 4,9: „wie wendet ihr euch dann wieder den schwachen und dürftigen Mächten zu, denen ihr von neuem dienen wollt?“ (Lutherbibel 1984)

Paulus war die Freiheit, die Menschen durch den Bezug zu Jesus Christus (d.h. Taufe und Glaube) bekommen, ein zentrales Anliegen (wie es auch die Exodusgeschichte mit dem Auszug der Israeliten aus der Sklaverei Ägyptens zeigt). Deshalb sagt er: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und laßt euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!“ (Gal 5,1 – Lutherbibel 1984)

Diese Freiheit in Christus geht so weit, dass Paulus viele traditionelle Gesellschaftsstrukturen anders beschreibt, als es manche erwarten würden:

„Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus.
Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen.
Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.
Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Kinder und nach der Verheißung Erben.“ (Gal 3,26-29 Lutherbibel 1984)
Zwar bedeuteten diese Gedanken des Paulus damals keineswegs eine Abschaffung der Sklaverei, aber viele Jahrhunderte entstand aus christlicher Überzeugung im Abolitionismus eine Bewegung, die Sklaverei und Ungleichbehandlung von Menschen stark kritisierte und den Gedanken der Freiheit und Gleichheit aller Menschen stark betonte. Doch erst im Grundgesetz, dass nach der Katastrophe der NS-Diktatur formuliert wurde, wurden diese Gedanken als Grundwerte rechtsverbindlich ausformuliert.
Zurück zur Frage oben: Vielleicht fragt sich der geschätzte Leser bzw. die Leserin, was Phantomschmerzen mit Transsexualität zu tun haben? Wer darüber mehr wissen will, sei auf die Aufsätze von V.S. Ramachandran verwiesen – mit der Suche nach „Ramachandran“ findet man in diesem Blog mehr dazu. Ramachandran fand – entgegen der Erwartung – bei transsexuellen Menschen nach einer Operation, die im Verlauf der Transition durchgeführt wurde, dass sie in der Regel keine Phantomschmerzen haben – im Unterschied zu Menschen, die auf Grund eines Unfalls oder einer schweren Erkrankung eine Amputation brauchten. Er fand heraus, dass für Körperteile bei jedem Menschen im Gehirn eine „body map“ bzw. ein „body image“ vorhanden ist, das festlegt, welche Körperteile vorhanden sein sollten und welche nicht. Transsexuelle Menschen haben – spätestens ab der Pubertät – eine Body map, bei der Körperteile als „fehlend“ dargestellt, andere Körperteile als „nicht passend“ und daher ergibt sich ihr Leidensdruck.

Update:
Die Notwendigkeit, den eigenen Körper anzugleichen, resultiert bei der großen Mehrheit der transsexuellen Menschen auch nicht aus einem innerpsychischen Konflikt (dafür gibt es keinerlei evidenzbasierte Studien) oder einer nicht auslebbaren Homosexualität (auch für diese veraltete Theorie gibt es keinerlei wissenschaftlich seriöse evidenzbasierten Studien).

Exkurs: Von einigen hundert mir bekannter transsexueller Menschen gab es nur eine einzige transsexuelle Frau, die die GaOP bereute und einen schwulen Mann, der auf Grund von Homophobie während der Schulzeit meinte, die Rolle wechseln zu müssen. Erst im Laufe der Hormontherapie wurde ihm bewusst, dass er eigentlich wirklich schwul ist und keine GaOP braucht. Das alles geschah aber trotz Gutachten und Zwangs-Psychotherapie, wie sie der MdK/MdS angeblich zum „Schutz“ transsexueller Menschen vorgibt. Dabei wäre es viel wichtiger, gegen Homophobie und für die Ehe für alle einzutreten, denn alle anderen transsexuellen Menschen sind sich sehr bewusst in dem, was sie tun, wenn sie sich chirugisch angleichen wollen.

Vielmehr ergibt sich die Notwendigkeit einer Angleichung aus dem, was einem die Tiefenschichten des Gehirns seit Kindheit an in Form getriggerter Signale und Muster immer wieder bewusst machen.
Dieses „bewusst machen“ äußert sich dann z.B. im Wunsch nach Cross-Dressing und/oder in Phantomkörperwahrnehmungen und all dem, was einem an „Puzzle-Teilen“ (so nenne ich die Signale der transsexuellen Hirngeschlechts-Tiefenschicht bildhaft) immer mehr bewusst wird, wenn man sich selbst prüft und fragt: Würde man auch auf einer einsamen Insel (auf der man nur diejenigen Ärzte, die einem mit Hormonen/Chirugie helfen könnten, vorfindet) eine Hormontherapie / GaOP durchführen, wenn Familie, Freunde, Arbeitgeber usw. keine Rolle spielen?

Je nach der Art, ob ein Umfeld transphob oder weniger transphob ist, werden diese „Äußerungen“ des Hirngeschlechts (mehr zu diesem Begriff in Dr. Haupts Blog hier) gar nicht, heimlich oder bewusst ausgelebt. Wenn sie gar nicht ausgelebt werden können, steigt die Rate von Folgeerkrankungen (Komorbiditäten – mehr dazu in den Altdorfer Empfehlungen bei Dr. Haupt) der abgelehnten Transsexualität.

Update August 2016: Einen hervorragenden und bedenkenswerten Artikel zum Gedanken der Gleichheit hat Franziska Schutzbach veröffentlicht. Auch sie kritisiert den Mythos einer unhinterfragten Ordnung…

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