Jubiläum heute: 10 Jahre Aufwind2012 Blog – ein Grund zu feiern?

Liebe Leser*Innen,

Heute ist Jubiläum! Seit 10 Jahren (seit dem 27. Oktober 2012) blogge ich nun hier. Wie hat sich seit dem vieles verändert!
Es könnte tatsächlich zu einer Ablösung des Transsexuellengesetzes kommen, wenn die Ampelkoalition das Selbstbestimmungsgesetz einführt! Wie viele Jahre war das ein Anliegen vieler Menschen, die selbst eine Begutachtung über sich ergehen lassen mussten, um den Vornamen- und Personenstand zu ändern. Aber viele Petitionen hatten die frühere Regierung nicht beeindruckt.

  • Vor 10 Jahren las ich das erste Mal von V.S. Ramachandran und den Studien etlicher Neurobiolog*Innen zum Thema Transsexualität (damals war der Begriff noch nicht so verpönt wie heute, aber zu den Begriffen habe ich ja hier schon viel geschrieben). Für mich war Dr. Claudia Haupt diejenige, die mich auf die Bedeutung der Neuroforschung beim Thema „Trans*“ hingewiesen hat und die durch ihre Übersetzungsarbeit und ihren Blog (der leider nicht mehr existiert), mir half, mich selbst meiner Umwelt besser zu erklären und zu verstehen, warum ich so bin, wie ich bin.
  • Vor 10 Jahren kannte ich Dr. Gerhard Schreiber noch nicht und es war für mich wie ein wunderbares Geschenk Gottes, ihn damals in einem Seminar in Frankfurt a.M. kennenzulernen und danach von ihm gefragt zu werden, wovon ich träume. „Eine internationale interdisziplinäre Konferenz zum Thema Transsexualität“ war damals meine Antwort. Aber ich hätte nie mir vorstellen können, dass so eine Konferenz einmal Realität werden würde und ich dort mitarbeiten könnte. Aber so geschah es 2016.
  • Vor 10 Jahren gab es noch keine „Stuttgarter Erklärung“ – als es sie dann (2015) gab, war ich unter den ersten 50 Personen, die sie unterschrieben haben. Inzwischen sind es über 3000 Menschen, die den Gedanken der Selbstbestimmung unterschrieben haben, darunter viele Professor*innen deutscher Universitäten und viele andere Akademiker.
  • Vor 10 Jahren war ein Vereinsgründung und die Einberufung einer Fachgruppe Gendergerechtigkeit in der EKHN noch nicht auf dem Schirm – aber beides wurde Realität: Zunächst die Einberufung dieser Fachgruppe durch die Kirchenleitung der EKHN, die auch die Konferenz in Frankfurt unterstützt hatte und 2018 dann die Gründung des Vereins Kreuzweise-Miteinander e.V., der innerhalb der Kirchen aber auch darüber hinaus in der Gesellschaft für mehr Akzeptanz von LGBT* eintritt usw…
    Von Dr. Schreiber erschienen inzwischen zahlreiche Fachbücher zum Thema Sexualität in all ihren Facetten, in der er als christlicher Ethiker und systematischer Theologie viele unterschiedliche Aspekte dieses Themas meist im Team mit anderen Autor*Innen beleuchtet.
  • Vor 10 Jahren hätte ich auch nicht im Traum daran gedacht, dass es einmal einen Buchpreis für Kim de l’Horizon für seinen Roman „Blutbuch“ geben würde, in dem eine nonbinäre Person im Zentrum steht. Die Kategorie „nonbinär“ war damals noch kaum Thema in den Diskursen.
    Was aber damals Thema war und leider bleibt, ist Hass und Gewalt. So beschrieb es Carolin Emcke in ihrem Beitrag „Schutzlos – Ausgeliefert werden queere Menschen nicht erst in dem Moment, da sie angegriffen, verletzte, getötet werden – einfach nur für die Art, wie sie aussehen“. Emcke geht darin auf den Mord an Juraj Vankulič und Matúš Horváth in Bratislava ein (SZ, 22./23. 10.2022, Seite 5 leider online hinter einer paywall, hier im Tagesspiegel mehr dazu).
    Auch Kim de l’Horizon erlebte selbst Gewalt, wie soviele andere Menschen aus dem LSBTTIQ* Spektrum auch:

„Wieso schlug mich der Mann? Nicht meiner Identität wegen, denn die sieht man nicht. Repräsentative Studien meines Alltags haben ergeben: Er bestrafte mich für den Lippenstift. Er bestrafte mich dafür, dass ich mir eine Schönheit jenseits des Erlaubten erlaubte. Er bestrafte mich dafür, dass ich mich frei bewegte.“ (Quelle: NZZ Artikel eingesehen am 22.10.2022)

Und Kim de l’Horizon beschreibt psychische, verbale Gewalt durch den schweizer Bundesrat Ueli Maurer, der am Jahresende zurücktreten wird:

„Als ich mir die Pressekonferenz anhörte, schlug mir Ueli Maurer bei Minute 22 ins Gesicht. «Ob meine Nachfolgerin eine Frau oder ein Mann ist, ist mir egal. Solange es kein ‹Es› ist, geht es ja noch.» Ich schaute die Pressekonferenz zu Ende. Keine*r der anwesenden Journalist*innen kommentierte diese Aussage.“ (NZZ ebd.)

Leider sind solche Erfahrungen auch 10 Jahre nach Start meines Blogs nicht weniger geworden – gefühlt nehmen Hass, Gewalt und Hetze gegen queere Menschen sogar zu und werden aktiv von bestimmten fundamentalistischen Gruppen geschürt, wie man hier nachlesen kann. So schrieb der Kölner Stadtanzeiger, dass seit der Verleihnung des deutschen Buchpreises Kim de l’Horizon massiven Anfeindungen ausgesetzt ist und inzwischen auf der Buchmesse von einem Sicherheitsdienst bewacht wird.
Das erinnert an die Anfeindungen, die Dr. Dana Mahr erleben musste. Auf Grund dieser Hetze wurde bei ihrem Haus ein Fenster eingeworfen und sie musste mit ihrer Familie wegziehen.
Mir stellt sich mir die Frage immer wieder neu, warum Menschen so polarisieren und hetzen. Brauchen wir wirklich immer wieder neue Feindbilder? Darüber denke ich schon lange nach. Und ich finde es bedauerlich, wenn manche Entwicklungen in unserer Gesellschaft nicht in Richtung mehr Gleichberechtigung und Anerkennung von Freiheitsrechten gehen, sondern das Gegenteil bewirken wollen (aber solche Debatten gab es auch, als die Frage aufkam, ob man die Sklaverei abschaffen solle). Insofern gibt es auch 10 Jahre nach Start dieses Blogs keinen Grund zu feiern – jedenfalls nicht im Blick auf die Situation von LSBTTIQ* in Europa und weltweit.

Im Blick auf meine eigene Person ist mir seit meiner Geschlechtsangleichung durchaus immer wieder zum Feiern zu Mute. Es tut unendlich gut, sich endlich in sich selbst zu Hause zu fühlen. Und ich bin den Mediziner:Innen dankbar, die mich bei diesem Weg unterstützt haben und weiter unterstützen. Ich danke auch all denen, die nach dem Coming out weiter in Beziehung geblieben sind, auch wenn ich leider das Gegenteil bei manchen Menschen auch erlebt habe, von denen ich einmal dachte, es seien Freunde. Aber anscheinend habe ich mich getäuscht. Besonders dankbar bin ich Gott dafür, dass ich weiter in unserer Kirche arbeiten darf, seit November 2021 eine Gemeindepfarrstelle habe, bei der ich den Eindruck habe, dass es dauerhaft gut laufen wird und last but not least danke ich meiner Frau, mit der ich weiter nun schon 38 Jahre verheiratet bin.

Im Blick auf die gesellschaftlichen Fragen werde ich jedenfalls am Ball bleiben und mich weiter engagieren für Versöhnung und Mäßigung. Ein Motto der Bibel ist mir dabei wichtig – wer es nachlesen will, schlage Epheser 4,29 auf.

Besonders bemerkenswert und Grund zur Dankbarkeit finde ich es, wie Kim de l’Horizon schließlich sagen kann:

„Herr Maurer, Sie wollen mir mein Menschsein verwehren, mich nicht als vollwertiges politisches Subjekt akzeptieren. Dennoch kämpfe ich nicht gegen Sie. Ich vergebe Ihnen.“ (NZZ Artikel oben verlinkt)

Zu Recht bemerkte Prof. Dr. Johannes Woyke bei Facebook dazu:

der in der NZZ veröffentlichte Text atmet Christusgemäßheit im nicht-selbstgerechten Umgang mit Feinden. Wie ich früher bereits schrieb: Ich finde es berührend, vorbildlich, inspirierend.

Zu dem Buch von Kim erschien eine Rezension von Prof. Dr. Thorsten Dietz bei Reflab und im Blick auf die Frage, wie Kim zur Religion steht, schreibt Dietz:

„Explizit taucht Religion nur als Komplizin repressiver Ordnungswünsche auf. «Ich schreibe dir dies, um gegen die body negativity anzuschreiben, die ich geerbt habe; vielleicht nicht von dir direkt, aber von der christlich-zentraleuropäischen Kultur.» (32) Am Beispiel der Hexenverfolgung durch viele christliche Generationen hindurch macht der Roman diese Erfahrung bedrückend anschaulich. Und wie gerne würde ich sagen, dass die Christenheit inzwischen diesem Drang, alles Fremde, Unverständliche zu fürchten, hassen, bekämpfen völlig entwachsen ist.“ (Quelle: Reflab, eingesehen am 22.10.2022)

Vielleicht kann ja das christliche Motiv und der Auftrag Jesu zur Vergebung sowie zur Feindesliebe künftig mehr in den Mittelpunkt gestellt werden?
Vor einigen Wochen erst bat Dr. Michael Diener beim Coming in 2022 in einer bewegenden Ansprache um Vergebung bat für seine Haltung und Einstellung gegenüber queeren Menschen.

Foto Dr. Michael Diener

Dr. Michael Diener beim ComingIn (Sept. 2022). Foto: Dorothea Zwölfer

Man spürte vor Ort und danach in den Reaktionen auf seine Worte, wie sich etwas verändern kann, wenn Menschen ihre Haltung überdenken und sich auf neue Wege einlassen. Hier findet man seine Rede bei youtube.
Ich bin dankbar dafür, erleben zu können, wie manche Menschen doch christliche Grundwerte wie „Vergebung und Versöhnung“ mit Leben füllen und man spürt: Da meint es jemand wirklich so, wie er* es sagt. In diesem Sinn wünsche ich uns allen mehr Liebe, mehr Vergebung und mehr Versöhnung.

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2 Antworten zu Jubiläum heute: 10 Jahre Aufwind2012 Blog – ein Grund zu feiern?

  1. Helga Hedi Denu sagt:

    Herzlichen Glückwunsch – und Danke

  2. Liebe Dorothea, einfach gut !!!

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