massive Kritik gibt es an

der Begutachtungsanleitung und Richtlinie des MdS im Sinne von §282 SGB V mit dem Titel „Geschlechtsangleichende Maßnahmen bei Transsexualismus (ICD-10, F64.0)“. Denn: Diese Maßnahmen und die entsprechende Begutachtungsanleitung sorgen nicht für weniger Leidensdruck, sondern für mehr – deshalb ist es wichtig, die Kritik zu kennen! Im Blick auf die Sprache in diesem Artikel gehe ich nicht näher auf die Verwendung von „Variante der Geschlechtsentwicklung“ ein, da sie in der Begutachtungsanleitung keine Rolle spielt (und auch das ist ein Zeichen, wie wissenschaftlich überholt die Anleitung ist – aber zum Begriff Varianten… habe ich andernorts mehr geschrieben bzw. hier).

Man findet diese Kritik

  • in einem Artikel beim Portal queer, der in das Thema einführt (vom 29. Mai 2021) und weiteres dazu verlinkt. Dazu mehr weiter unten in diesem Blogartikel…
  • in einer Publikation der Bundespsychotherapeutenkammer mit dem Titel: „Keine Zwangs-Psychotherapie bei Transsexuellen“, (20.4.2021)
  • vom Netzwerks Geschlechtliche Vielfalt Trans* NRW (NGVT* NRW) (dabei war Dr. med. Hagen Löwenberg, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, beteiligt – mehr zu ihm im Update unten…)
  • bei der VDGE e.V., die die Psychopathologisierung durch den MdS in den Fokus nimmt

Die Begutachtungsanleitung ist hier verlinkt (Stand Herbst 2020).

Dabei ist auch die rechtliche Annahme des Bundessozialgerichts inzwischen wissenschaftlich überholt (zumindest, wenn man die Studie von Kurt Seikowski einmal im Blick auf ihre Evidenzklasse mit der Evidenzklasse der AWMF-Leitlinie vergleicht). Beim BSG heißt es:

Nur wenn psychiatrische und psychotherapeutische Mittel das Spannungsverhältnis nicht zu lindern oder zu beseitigen vermögen, gehört es zu den Aufgaben der gesetzlichen Krankenkassen, die Kosten für eine geschlechtsangleichende Operation zu tragen
BSGUrteil vom 10.02.1993, 1 RK14/92; Beschluss B 1 KR 28/04 B vom 20.06.2005

Selbst in der AWMF Leitlinie ist das Evidenzniveau für eine entsprechende Aussage nur auf Level III), während umgekehrt die Hormontherapie (statt einer Psychotherapie) deutlich dazu beitrögt, das Spannungsverhältnis zu lindern, wie eine Studie von Dr. Kurt Seikowski an über 1000 Betroffenen deutlich zeigte (zu finden in G. Schreiber, Das Geschlecht in mir, 2019).
Deshalb müsste an erster Stelle nach dem Besuch des Arztes die Hormontherapie ermöglicht werden und zumindest müsste in einer Überarbeitung der Begutachtungsrichtline des MdS auf diese Studie und ihre Evidenzqualität eingegangen werden.

Aber zurück zur Begutachtungsanleitung. Neu ist, dass die Mindestdauer für Psychotherapie vor weiteren somatischen Maßnahmen nun von 18 Monaten auf mindestens 6 Monate reduziert wurde (vgl. S.19 und S.34) (zusammen mit dem sogenannten Alltagstest kommt man aber weiter auf 18 Monate).

Es wird weiter auf dem sogenannten Alltagstest bzw. „Alltagserfahrungen“ (1 Jahr – S.21) vor „irreversiblen Operationen“ (S.21f.) insistiert (das wird dann als „informed consent“ dargestellt), ohne darüber zu reflektieren, dass ein Mensch ohne Hormontherapie, der genötigt wird, in der Kleidung des Gegengeschlechts „Erfahrungen“ zu sammeln ein hohes Risiko hat, Opfer von körperlicher Gewalt, Diskriminierung bzw. Arbeitsplatzverlust und Arbeitslosigkeit zu werden (welcher Arbeitgeber toleriert es, wenn sein Bankberater mit einem Mal in weiblicher Kleidung auftaucht? – ich kenne konkret eine betroffen Frau, die ihren Job bei der Bank durch ihre Geschlechtsangleichung verloren hat). Abgesehen davon: Wenn keine pubertätshemmenden Medikamente eingesetzt werden, weil das dieser Richtlinie nicht entspricht, droht ein massiver zusätzlicher und sehr dauerhafter Leidensdruck, der in der Richtlinie nicht reflektiert wird! D.h.
Die Begutachtungsrichtlinie des MdS erzeugt unnötig zusätzlichen Leidensdruck, der ja eigentlich abgebaut werden soll und gleichzeitig kostet es den Staat unnötig Geld, wenn Menschen ihren Arbeitsplatz wegen so einer unsinnigen „Alltagserfahrung“ verlieren, für deren wissenschaftliche Evidenz es ebenfalls keine guten Studien gibt. Oder ist es sinnvoll, dass „nach Maßgabe der kritisierten Anleitung transgeschlechtliche Personen erst psychisch erkranken, ehe sie medizinisch versorgt werden“? (Queer, Quelle s. oben!)
Hier sind der Gesetzgeber und die Gerichte gefragt, die zu Grunde liegende Ethik zu hinterfragen!

Lesenswert sind auch einige Kommentare zum Queer-Artikel zum Thema Gatekeeping. Ich zitiere aus Kommentar 1 (hier zu finden)

Die DGTI ist aus dem BVT* wegen dessen Haltung zu gatekeeping ausgetreten. Man kann übrigens auch bei Beratungsstellen schweres Geld damit verdienen, an die sich trans Personen hauptsächlich wegen psychomedizinischem gatekeeping wenden, auch als trans Person mit Psychomediziner-Status.

Es könnte ja jemand fragen, warum, wenn trans sein keine ‚psychische Krankheit‘ ist, Psychomediziner nach wie vor, und noch intensiver als bisher, Macht über trans Personen und ihre Körper ausüben können sollen!

Zu Kommentar 2 und den irreversiblen Folgen: Da sollte das gleiche Recht wie bei Schwangerschaftsabbrüchen gelten. Auch da hat der Gesetzgeber die Haftungsfrage klar geregelt und die Folgen sind nicht nur für die betroffene Person, sondern auch für ein ungeborenes Embryo noch viel massiver, als wenn ein Mensch mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung seinen Körper an sein inneres Wissen von sich selbst angleicht.

Kommentar 3 sieht sehr zu Recht die Problematik der AWMF S3 Leitlinie und bringt sie so auf den Punkt:

„Die S3-Leitlinien wurden explizit auf die Gefahr hin geschrieben, das Transsexuellengesetz könnte eventuell abgeschafft werden, das steht in deren Langfassung. Trans Personen sollen niemals frei und selbstbestimmt leben können in Deutschland, darum geht es, trotz internationaler Wissenschaft (ICD-11) und der wachsenden Zahl anderer Länder mit Selbstbestimmungsgesetzen.“

Und sehr treffend kritisiert Kommentar 4 die Problematik des Gatekeepings und der Fristenregelungen bzw. Bevormundung bei Kindern und Jugendlichen in der Pubertät:

„was ist mit den irreversiblen Schäden, die durch Vorenthalten somatischer Maßnahmen entstehen? Die sind beabsichtigt. Verweigert man einem jungen trans Mädchen zum Beispiel Pubertätsblocker – die für cis Kinder entwickelt worden sind und deren Wirkungen vollkommen reversibel sind, sonst würden cis Kinder nicht bei Bedarf damit behandelt! – was geschieht?
Sie leidet. Das soll so sein, und dafür kann man sie auch psychopathologisieren. Dann winkt ‚dem Jungen‘, der keiner ist, Konversionstherapie oder die Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Überlebt sie, ist immerhin ziemlich sicher, daß sie nie ein gutes cis passing erreichen wird, was sie lebenslang zum Ziel von Diskriminierung und Gewalt macht.“

Liebe Politiker, macht Euch bitte schlau und lest Euch diese Argumente durch. Der „klinisch relevante Leidensdruck“ muss bei dem Thema als Kriterium für medizinische Hilfe hinterfragt werden, sonst erzeugt man dauerhaft noch mehr Leiden und das ist unethisch!
Diesen Blogbeitrag findet man auch über folgenden Kurzlink: https://t1p.de/MdS  so kann man ihn besser teilen.

Update 3.6.2021: Einen Flyer für eine Fortbildung zum Thema med. Hilfe für Menschen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung (auch mit Dr. Löwenberg) habe ich hier hochgeladen. Anbieter ist InTraHealth und die FH Dortmund. Spannend finde ich bei dieser Fortbildung den Zusammenhang von Diskriminierungserfahrungen und dem Versuch, das Gesundheitswesen deshalb zu verbessern. Vielleicht nimmt ja auch ein Gutachter des MdK bei der Fortbildung teil – oder sogar jemand vom MdS, der bei der Begutachtungsrichtlinie mitgeschrieben hat? Es wäre schön, wenn Krankenkassen ihre Kontakte zum MdK entsprechend nutzen würden und auf diese Fortbildung hinweisen würden…

 

 

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