Nachdem eine junge Frau

mich gestern (1.4.2022) bei einer Veranstaltung fragte, ob ich wirklich sicher sei, dass das mit der neuronalen biologischen Verankerung des Geschlechts stimmt, war leider nicht mehr viel Zeit, darauf ausführlicher einzugehen. Aber es gibt seit der Forschung von Prof. Milton Diamond viele Publikationen, die in diese Richtung weisen.
Daher möchte ich an dieser Stelle zunächst einmal Milton Diamond zitieren:

„Der entscheidende und auch heute noch gültige
Grundgedanke lautet, dass das Verhalten pränatal organisiert wird, aber erst postnatal aktiviert. Meinen Medizinstudenten nenne ich als Beispiel immer die Menstruation: Sie ist pränatal
organisiert, tritt aber erst während der Pubertät auf, also Jahre später.“ (Zeitschrift für Sexualforschung, 2008, 21, Seite 370).

Diamond beschäftigte sich als Biologe viel mit den pränatalen Entwicklungen von Säugetieren. Unter anderem beobachtete er auch, was für verhängnisvolle Folgen bzw. Nebenwirkungen das Medikament DES (Diethylstilbestrol) beim Menschen hat und stellte fest, dass Frauen, die in der Schwangerschaft zur Vorbeugung gegen Fehlgeburten dieses Medikament bekamen, später oft von außen gesehen Kinder bekamen, denen zwar das männliche Geschlecht zugewiesen wurde, die aber sehr stark feminine Züge entwickelten. Einige hatten ihr Geschlecht angeglichen. (vgl.Zeitschrift für Sexualforschung, 2008, 21, Seite 371f)

Sehr massiv wurde die Kontroverse zwischen Milton Diamond und John Money. Money meinte, Geschlecht sei anerzogen (dagegen Diamond: Es ist angeboren und im Gehirn verankert). Er machte ein Experiment mit einem Zwillingspaar und versuchte, David Reimer als Mädchen erziehen zu lassen. Das misslang und trieb Reimer schließlich in den Suizid. Seine Geschichte findet man ausführlich bei Wikipedia.

Neben Milton Diamonds Forschung finde ich besonders auch V.S. Ramachandrans Forschungsergebnisse zur Phantomschmerz- und Phantomkörperwahrnehmung bedeutsam (zumal ich selbst solche Phantomkörperwahrnehmungen seit der Pubertät hatte und auch andere kenne, die davon mir berichteten). Dr. Haupt hat Ramachandrans Forschung ausführlich und sehr gut lesbar in deutscher Sprache im Aufsatz „Sie sind ihr Gehirn“ beschrieben. Zuvor wird Milton Diamonds Position prägnant zusammengefasst:

>Milton Diamond charakterisierte diese neue Position [das neuronale Weltbild, das hoffentlich in einigen Jahren/Jahrzehnten das genitalistische Weltbild im Blick auf Geschlecht ablöst – Anmerkung von D. Zwölfer mit Bezug auf meinen Vortrag am 1.4.2022], in dem er feststellte, dass transsexuelle Menschen bezüglich ihrer Gehirne intersexuell seien, und dass es diese Gehirn-
Intersexualität sei, die einen Menschen dazu bringe, seine oder ihre geschlechtliche Identität zu behaupten. Zusammengefasst: So gesehen haben transsexuelle Menschen ein neurobiologisches
Geschlecht, dass die Geschlechtsidentiät entscheidend präformiert (Hirngeschlecht) und „hervorsticht“. Die andersartigen biologischen Geschlechtsaspekte des individuellen Körpers (chromosomal, hormonell, genital usw.) stehen biologisch-geschlechtlich zu diesem (biologischen) Hirngeschlecht in Kontrast („biologisches Gegengeschlecht“). Metaphorisch: Das „Zentrum“ weist also ein anderes Geschlecht auf als die „Peripherie“.<< (Quelle: Haupt, Sie sind ihr Gehirn, S. 7)

Und ab Seite 24 erläutert Dr. Haupt ausführlich die Forschungsergebnisse von V.S. Ramachandran.

Über die Suchfunktion in diesem Blog findet man viele weitere Hinweise auf Aufsätze und Studien, die mich selbst seit 2012 immer klarer davon überzeugten: Das wichtigste Geschlechtsorgan sitzt zwischen den Ohren… – das „neuronale Geschlecht in mir“ muss im Blick auf ein Weltbild das genitalistisch geprägte Weltbild ablösen.

Dazu noch ein Hinweis für alle, die eine aktuelle Publikation zum Thema „Hirngeschlecht“ lesen wollen. Erst vor kurzem erschien in der medizinischen Datenbank pubmed ein Artikel mit der Überschrift „Brain Sex in Transgender Women Is Shifted towards Gender Identity“ (Hg. Dr. Florian Kurth, Prof. Dr. Christian Gaser, Prof. Dr. Francisco J. Sánchez, Prof. Dr. Eileen Luders) (bei researchgate können Wissenschaftler den Full-Text lesen)

Darin heißt es übersetzt:
„Einige (oder vielleicht alle) der oben genannten Variablen [z.B.genetische Veranlagung und hormonelle Belastungen usw…] können zu neuroanatomischen Variationen beigetragen in Transgender-Gehirnen beigetragen haben, wie wiederholt sowohl in Post-Mortem- als auch in In-vivo-Studien beobachtet wurden, die in den letzten drei Jahrzehnten (!) erschienen sind.“ (die Studien werden natürlich im Anhang des Artikels, den man hier als .pdf frei herunterladen kann, aufgezählt)

Sehr spannend ist auch eine Grafik auf Seite 4 in diesem Artikel der Fachzeitschrift „Journal of clinical medicine“, der im März 2022 veröffentlicht wurde und in der man sehen kann, wie schon vor der Hormontherapie trans* Frauen als Gruppe zwischen Cis-Männern und Cis-Frauen im Blick auf ihr neuronales Geschlecht „in der Mitte“ liegen (statistisch verteilte Messpunkte). Aus dieser Grafik wird ziemlich deutlich, warum die Rede von Neurointersexualität und Varianten der Geschlechtsentwicklung Sinn macht bzw. warum „trans*“ auch als Unterkategorie von Intersexualität auf neuronaler Ebene verstanden werden kann. Ebenso sieht man hier sehr plastisch, wie Geschlecht eben mehr ist als reine Binarität, auch wenn man eine medizinisch-biologische Brille aufsetzt.

Update: Auch in diesem Artikel meines Blogs gibt es etliche Hinweise auf neuere Studien zum Thema „Verankerung des Geschlechts im Gehirn“… (eben upgedatet)

Update 8/2022: Sehr informativ ist auch der TED-Talk der Biologin Karissa Sanbonmatsu mit dem Titel „The biology of gender, from DNA to the brain“.

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2 Antworten zu Nachdem eine junge Frau

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