über die genauen Ursachen von Transsexualität

gibt es viele Thesen und Theorien. Eine Zusammenfassung und Übersicht findet man im Aufsatz der ATME e.V. „Warum sind manche Menschen transsexuell?„.
Ende Dezember 2013 erschien auf NTV ein Beitrag („Wenn Jungen eher zu Puppen greifen„) von Jana Zeh über hormonaktive Umweltstoffe, die das Verhalten von Kindern beeinflussen – weil Embryos während der Schwangerschaft besonders empfänglich zu sein scheinen für solche Umwelteinflüsse.
Ebenso gab es einen sehr interessanten Bericht über Umwelteinflüsse auf die Gehirnentwicklung von Föten unter dem Titel „Plastikgrundstoff verändert Hirnentwicklung“ – ein Grund mehr, im Blick auf Transsexualität vom „Hirngeschlecht“ in Abweichung zum „Genitalgeschlecht“ zu sprechen, wie es Dr. Horst Haupt in seinem Aufsatz „Sie sind ihr Gehirn – nur im falschen Körper“ tut (S. 20) und somit im Blick auf die Verwendung des meist nicht sehr präzisen Begriffs der „Biologie“ Klarheit schafft, warum Transsexualität biologisch gesehen eine Normvariante menschlicher Existenz ist.
In der Disseration von Dr. Timo Nieder (online einsehbar!) erwähnt dieser epigenetische Einflüsse (Es >>liegen Hinweise vor, dass epigenetischen Mechanismen Einflussmöglichkeiten auf die Geschlechtsentwicklung zugeschrieben werden kann (vgl. Holterhus, 2012; McCarthy et al., 2009).<< S.35). Nieder zeigt in einer Grafik auf S.37 seine Ergebnisse über mögliche Ursachen von TS auf.

Update November 2016: Wie die internationale, interdisziplinäre Konferenz an der Goethe Universität in Frankfurt und das daraus entstandene Fachbuch sowie die neuesten Reviews und Artikel auf pubmed zeigen, gibt es inzwischen deutliche Hinweise auf einen vorgeburtlichen (fötalen) hormonellen Einfluss auf die Gehirnentwicklung transsexueller/transidenter Menschen (Milton Diamond, Mark Solms – sehr lesenswert ist das Buch von ihm „das Gehirn und seine innere Welt„, in dem er in einem Kapitel sehr ausführlich die Empfindlichkeit der embryonalen Gehirn-Geschlechtsentwicklung während der Schwangerschaft beschreibt).
Dr. Haupt:

>>In den aktuell vorliegenden Übersichtsarbeiten über die geschlechtliche Differenzierung des Gehirns wird betont, dass zwar noch beträchtliche Wissenslücken bestehen, aber sich doch immerhin hinsichtlich des aktuell verfügbaren Wissens ein Konsens formulieren lässt. Bezüglich gonadal-hormoneller Auswirkungen auf die Gehirnorganisation besteht Einigkeit, dass mittels der genetisch getriggerten Gonadenentwicklung „lebenslang wirksame geschlechtsspezifische Sekretionsmuster der Gonadenhormone in Gang gesetzt [werden], die zum einen eine unterschiedliche Organisation der Gehirne von männlichen und weiblichen Lebewesen während des Fötalstadiums, und zum anderen unterschiedliche Funktionen der Gehirne im späteren Leben verursachen, weil sie während der gesamten Lebenszeit unterschiedlichen Dosen von Gonadenhormonen ausgesetzt sind.“<< (in: G. Schreiber, Transsexualität in Theologie und Neurowissenschaften, S. 89)

Gleichzeitig betont Dr. Haupt in seinem Aufsatz „Neurointersexuelle Körperdiskrepanz“ (ebd. S. 81) drei „Wissenschaftskonzepte der Neurowissenschaften“ (ebd.), die wichtig sind, um eine neues Verständnis von Transsexualität zu entwickeln:

>>1. Qualia (Ramachandran)

2. Neurowissenschaftliche Phänomenologie (Weizsäcker, Plügge, Auersperg, Buytendijk, Fuchs, Gallagher) und

3. Neuronale Netze und Muster (Kohonen).<< (ebd. S.81)

Es lohnt sich daher, das Buch von Dr. Schreiber zu kaufen, um sich mit diesem neuen Ansatz zu beschäftigen. Der Begriff „Hirngeschlecht“ wird jedenfalls in der Darstellung von Dr. Haupt um das gesamte neuronale Netz im Körper eines Menschen erweitert. Haupt spricht von „Geschlechtskörpersituiertheit“ (ebd. S.89). D.h. es ist nicht klar lokalisierbar, aber trotzdem der Grund, warum Menschen sich als transsexuell erleben.

Darum ist auch klar, warum transsexuelle Menschen ab der Hormontherapie (HRT) eine „Kongruenzdynamik“ entwickeln und warum die Hormontherapie wie auch andere med. Maßnahmen wichtig sind und nicht durch Gatekeeper mit finanziellen Lobbyinteressen hinausgezögert werden dürfen, wenn man nicht bewusst Schuld an Komorbiditäten (und damit volkswirtschaftlich unnötigen Kosten) auf sich nehmen will. Denn durch die HRT wird die innere Übereinstimmung zwischen dem neuronal verankerten inneren Wissen („Hirngeschlecht“) eines transsexuellen Menschen um sein eigentliches Geschlecht und anderen Geschlechtsmerkmalen (Hormongeschlecht, Geschlechtskörperschema) gefördert.

Update Juni 2017: Inzwischen gibt es eine Studie „Prenatal exposure to paracetamol/acetaminophen and precursor aniline impairs masculinisation of male brain and behaviour“ (Hay-Schmidt A, Finkielman OTE, Jensen BAH, Høgsbro CF, Bak Holm J, Johansen KH, Jensen TK, Andrade AM, Swan SH, Bornehag CG, Brunak S, Jegou B, Kristiansen K, Kristensen DM) (hier bei pubmed bzw. hier fulltext) über einen möglichen Zusammenhang der Entstehung von Transsexualität bei Embryos während der Schwangerschaft, wenn die Mütter Paracetamol nehmen.
Vermutlich gibt es aber noch viele andere Ursachen, da ich genügend transsexuelle Menschen kenne, deren Mütter sicher kein Paracetamol während der Schwangerschaft genommen haben.

Update 2022: Für mich ist inzwischen klar, dass die neurowissenschaftliche Forschung und die Studien entsprechender Forscher klar darauf hinweisen, wie im Mutterleib während der Schwangerschaft sich das neuronale Netzwerk im Blick auf das Geschlecht anders entwickelt als die Genitalien. Entsprechende Studien zur Neuroforschung, in der es darum geht, habe ich seit 10 Jahren immer wieder hier (z.B. hier und hier (4/2022)) gebloggt.

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4 Antworten zu über die genauen Ursachen von Transsexualität

  1. Sandra Paul sagt:

    Meiner Ansicht nach verfolgt die Ursachenforschung einen völlig falschen Ansatz, denn Trans* ist kein Erscheinungsbild der Neuzeit, sondern schon immer da gewesen. Ich tendiere hingegen zu der Theorie, dass die Natur eine krasse Trennung zwischen weiblich und männlich nicht vorgesehen hat, da wir uns sonst wie z.B. Wildkatzen verhalten würden: als Einzelgänger, aber nicht als sozial fähige Gemeinschaft. Und zu dieser Gemeinschaft sind auch Strukturen erforderlich, die sich geschlechtlich nicht klar positionieren, sondern zur „Mäßigung“ geschlechtsübergreifend agieren können. Dass es dabei zu „Ausreißern“ kommen kann, die ins Gegengeschlecht „hineinschießen“, sollte uns nicht verwundern.

    Letztendlich wurde die Ausgrenzung von Transidenten durch die Religion (wahrscheinlich ausgehend von der jüdischen = der ältesten heute noch vorhandenen westlichen großen Glaubensrichtung, von welcher Christen und später die Moslems abgeschrieben haben) betrieben.

    Fakt ist, dass Transidente diese historische Fehlgruppierung (entweder Frau oder Mann) ausbaden müssen. Sie werden generell als Übeltäter beschuldigt und mit Ausgrenzung, unsinnigen „Therapien“ und immer noch horrenden Kosten (z.B. Gutachten) bestraft. Eine solche Einstellung und das Festhalten an einem Zwei-Geschlechter-Modell ist für eine Gesellschaft, die sich als intelligent dargestellt sehen möchte, ein Armutszeugnis. Da erscheinen z.B. die Indianer des 19ten Jahrhunderts als weitaus intelligenter und fortschrittlicher als diese unsere heutige Gesellschaft, weil sie Transidente (Two-Spirit-People) mit Achtung und Respekt behandelten. Dies gilt auch für die Hijras, die zwar am Rande der Gesellschaft leben, aber trotzden Achtung und Respekt erfahren.

    Neuzeitliche Einflüsse haben sicherlich auch ihren Einfluss auf die Ausbildung von Trans*, aber dieses Erscheinungsbild gab es schon immer in allen Völkern und allen Kulturen. Zum Nachdenken: Warum ist bei eineiigen Zwillingen einer Trans*, der andere nicht?

    • doro sagt:

      Klar ist Transsexualität zu allen Zeiten und in allen Kulturen vorhanden – das habe ich ja auch nie bestritten. Die Frage nach den Ursachen ist trotzdem legitim – und weil es nicht kulturell bedingt ist, deutet sich schon von daher an, dass es eine Frage der pränatalen Gehirnentwicklung ist. Was die Zwillinge betrifft: Auch die Augenform kann bei eineiigen Zwillingen unterschiedlich sein usw.: http://www.eineiige-zwillinge-online.de/unterschiede.htm
      Die Ursachenfrage ist m.E. vor allem deshalb wichtig, weil transsexuelle Menschen Hilfe vom Mediziner brauchen und zwar via Krankenkassenfinanzierung. Wenn Transsexualität eine Art Lifestyle wäre (was es nicht ist), dann könnte man sagen: Alles privates Hobby, aber keine Notwendigkeit einer Kostenübernahme von Operationen usw… – wenn Transsexualität aber auf Grund der angeborenen Geschlechtskörperdiskrepanz eine präventiv medizinische Intervention erfordert, um transsexuellen Menschen zu helfen, die Geschlechtskörperdiskrepanz zu verringern und nicht depressiv zu werden, ist die Frage nach den Ursachen absolut legitim.
      Abgesehen davon ist es im Blick auf ein Coming out durchaus hilfreich, wenn man dem anderen signalisieren kann: Ich mache das aus einer inneren Not/Zwang heraus und nicht, weil ich dich verletzen will bzw. du mir egal bist. D.h. Erklärungen können im Blick auf das „überleben von Beziehungen“ hilfreich sein (auch wenn es noch besser wäre, man wüsste bereits nach der Schule schon so viel zum Thema, dass sich das erübrigt).

    • doro sagt:

      und was ein „binäres“ Mann-Frau Schema betrifft: Schon in der Bibel werden die Eunuchen erwähnt (dazu habe ich andernorts gebloggt). Und Dr. Haupt verwendet bewusst den Begriff der Neurointersexualität, um die Vielfalt von Geschlecht im Gehirn zu verdeutlichen – ihr Aufsatz ist im Beitrag ganz unten verlinkt und sehr hilfreich – ich teile diese Sicht.

  2. Pingback: ein vernichtendes Urteil über die gegenwärtige Alltagspraxis des TSG | Aufwind2012

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